Epilog

Im März 1959 wird Emil Behr im Rahmen der Voruntersuchungen zum Frankfurter Auschwitz-Prozess vernommen. Dieser beginnt am 20. Dezember 1963. Auslöser für die Voruntersuchungen – und in der Folge für den Auschwitz-Prozess – ist das Schriftstück eines ehemaligen Mitgefangenen von Emil Behr in Auschwitz, Adolf Rögner. Dieser benennt Behr als einen von vier möglichen Zeugen für in Auschwitz begangene Verbrechen. Zur Hauptverhandlung wird Emil Behr nicht mehr geladen.

Und dennoch erlangt das Protokoll seiner Vernehmung heute eine völlig neue Bedeutung: es ist das einzige uns bekannte Dokument, in dem Emil Behr von seinen Erfahrungen während des Nationalsozialismus und der Shoah berichtet. Das Protokoll ist aufschlussreich und zugleich problematisch: aufschlussreich, weil es Lücken der Lebensgeschichte zu schließen hilft, problema- tisch, weil es von einem Protokollanten verfasst ist, der von der mehrstündigen Vernehmung nur das aufnahm, was er für prozessrelevant hielt.

Als Zeuge vor Gericht ist Emil Behr indes einmal aufgetreten: im Prozess gegen den SS-Ober- sturmführer Wilhelm Reischenbeck, unter dessen Kommando der Todesmarsch von Auschwitz stand. Reischenbeck wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt.


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Die Vernehmungsniederschrift aus den Voruntersuchungen zum Frankfurter Auschwitz-Prozess

Folgende Stimmen sprechen

A         Zitate jeglicher Art
B         Familie
C         Aushandlung 1
D        Aushandlung 2

Die Gesamtatmosphäre der Stimmen sind nüchtern, sie sprechen grundsätzlich recht abgeklärt. Diese Stimmung wird nur in wenigen Passagen durchbrochen, diese sind jeweils mit kurzen Anweisungen versehen., Die kursiv gedruckten Worte sind betont.

A: Epilog. Die Vernehmungsniederschrift aus den Voruntersuchungen zum Frankfurter Auschwitz- Prozess.

D: Dokumente wie das Protokoll der Vernehmung Emils sind juristische Dokumente und unterscheiden sich doch fundamental, etwa von den Briefen, die wir ausstellen. Hat das nicht automatisch einen ganz anderen Anspruch auf Wahrheit? Es erzeugt den Wunsch, dass da nun die Wahrheit drin steht, über das, was Emil passiert ist. Ich möchte die Geschichte jetzt gerne doch auch zu Ende denken können. Ich will, dass die Hinweise, die mich die ganze Zeit begleitet haben nun hier in diesem Dokument drin stehen. Man will doch wissen, wie es wirklich war.

B: In diesem Dokument habe ich zum ersten mal, wenn auch indirekt, Emil über seine Erfahrungen im Konzentrationslager sprechen hören. Auch wenn er in unserer Familie nicht viel erzählt hat, vor Gericht tat er dies sehr wohl, insgesamt dreimal. Bei den Nürnberger Nachprozessen, in der Klage gegen den SS-Obersturmbannführer Reischenbeck und im Zuge der Frankfurter Auschwitz Prozesse. Als ein juristischer Zeuge aufzutreten schien ihm sehr wichtig zu sein. Das passt zu seinem unerschütterlichen Glauben an das Recht, welches uns in der Klage gegen die Reichsvereinigung und in seinen Bemühungen im Zuge des Wohnungsverlusts in der Nachkriegszeit begegnet.

A: Aus dem Vernehmungprotokoll Emil Behr, 21. März 1959; Ich möchte keinesfalls den Eindruck erwecken, als wollte ich etwa nicht aussagen. Wenn ich mehr wüsste,  würde  ich  es  bestimmt  sagen,  denn  ich  bin  der  Meinung,  daß  die  der  Gerechtigkeit zugeführt werden sollen, die sich Verbrechen haben zuschulden kommen lassen.

C: Emil Behr wurde in dem Brief, der heute als einer der maßgeblichen Auslöser für den Frankfurter Auschwitz Prozess gilt, als einer von vier möglichen Zeugen genannt, die die Verbrechen der SS-Leute im Lager bezeugen können.

D: In der Strafsache gegen Mulka und andere kann er nichts belastendes anbringen.

C: Eingegangen in die Prozesse ist die Vernehmung von Emil Behr nicht. Von diesen Protokollen liegen noch haufenweise andere in Archiven herum. Darin sind womöglich viele unbekannte Einzelerzählungen eingekapselt.

A: Aus dem Vernehmungprotokoll Emil Behr, 21. März 1959:
Etwa 14 Tage nach unserer Abfahrt in Mannheim kamen wir in Auschwitz an. Wir wurden dort an der Rampe in Birkenau ausgeladen. Nach dem aussteigen mussten wir antreten und wurden von den SS-Ärzten sortiert, d.h. Kranke und Alte wurden von den Arbeitsfähigen getrennt. Was mit den nicht Arbeitsfähigen geworden ist, weiß ich nicht. Wie ich später hörte und es auch lagerbekannt war, wurden diese vergast und in den Krematorien in Birkenau verbrannt. Später konnte man den Geruch der Krematorien auch oft verspüren.

B: Das hatte ich nicht erwartet. Mein Großvater inmitten dieser so ikonografisch gewordenen Erzählung von der Rampe in Auschwitz. Verbindet man die Ankunft in Auschwitz mit einem Durcheinander, Schlägen und Tritten, vor allem mit Menschenmassen, ist dort, in der Vorstellung, wenig Platz für konkrete Einzelpersonen. Erst recht nicht für eine mir so nahe stehende Person wie Emil.

D: Es ist ein eigentümliches Dokument. Emil Behr spricht hier durch jemanden durch. Die Vernehmung fand ja immerhin über mehrere Stunden hinweg statt. Der Protokollant und Emil werden wohl auch frei miteinander gesprochen haben und nicht nur im Verhörstil. Es ist auch ein zweifelhaftes Dokument. Die Ich-Perspektive des Texts ist tückisch und verleitet immer wieder dazu, es für einen persönlichen Bericht Emils zu halten. Dabei verdichtet das Protokoll teilweise drastisch. Beispielweise der Satz: »Am 28. Febr. 1944 wurde ich plötzlich von der GeStaPo Mannheim verhaftet und in Schutzhaft genommen.« Hinter dem Wörtchen plötzlich türmt sich eine Geschichte auf, die Material für die umfangreichste Abteilung dieser Ausstellung wurde.

C: Wie die Ausführungen Emils auf den Protokollanten wohl wirkten? Machte dieser sich hart gegen das Erzählte, um es zu ertragen, oder ist er durch die vorangegangenen Vernehmungen und Aussagen anderer Zeugen schon resistent gegen die grausamen Berichte geworden?

D: Unter dem Protokoll steht der Name Aedtner und dahinter KM.

A: Aus dem Ankündigungstext des Dokumentarfilms „Ein deutsches Schicksal – Kriminalkommissar Alfred Aedtner“, 1987.
Sie wurden geschnitten, beschimpft und manchmal sogar bedroht bei ihrer Arbeit. Kriminalbeamte wie Alfred Aedtner ermittelten ab Ende der 1950er Jahre gegen NS-Verbrecher. Viele von ihnen waren Kollegen im Polizeidienst oder sogar Vorgesetzte. Alfred Aedtner ließ sich davon nicht abschrecken. Mit großem Engagement arbeitete er sein ganzes Berufsleben lang für die Aufklärung der NS-Verbrechen. Nach seiner vorzeitigen Pensionierung sorgte er dafür, dass die Ermittlungsakten archiviert wurden und so für die Nachwelt erhalten bleiben.

B: Das Protokoll der Vernehmungsniederschrift und zwei kleinere, ebenfalls im Rahmen der Voruntersuchungen zum Frankfurter Auschwitzprozess angefertigte Protokolle, sind für uns das ordnende Narrativ gewesen. Von dort aus erzählen wir die Geschichte meiner Familie. Die Aussagen im Rahmen des Frankfurter Auschwitzprozesses sind die einzigen Dokumente, in denen Emil rückblickend über seine Erfahrungen während der NS-Zeit berichtet. Mit dem neuen Wissen, das ich durch die Akteneinsicht im Landesarchiv Karlsruhe erhalten habe, bekommt das Dokument eine weitere Dimension. Während es für uns der Ausgangspunkt zum Erzählen wurde und anfangs den Boden der Ausstellung bereiten sollte, war es für meinen Großvater eher eine Station des sich langsam abzeichnenden Abschlusses.

A: Aus dem Vernehmungprotokoll Emil Behr, 21. März 1959:
Die Vernehmung wurde in der Zeit von 11.15 Uhr bis 17.30 Uhr vorgenommen.

C: Und das war's jetzt? Das war also die Geschichte von Emil Behr?

D: Wir können die Geschichte nicht fortzeugen. Niemand zeugt für den Zeugen.

C: Hören wir doch mal auf mit diesen Floskeln.